Der Stand der Dinge
Seit es die Fotografie gibt, also seit
etwa der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts,
herrscht zwischen ihr und
der Malerei eine bis heute andauernde
Beziehung. Mit der Erfindung der
Fotografie wurde das bis dahin geltende
ästhetische Paradigma der Malerei
außer Kraft gesetzt. Das Wirkliche
wirklichkeitsgetreu darstellen,
das konnte die Fotografie auf Anhieb
besser. Dadurch befreite sie die Malerei
für das Experiment und eignete
sich selbst ein Feld an, das die Malerei
bis dahin besetzt hatte: die gegenständliche
und realistische Abbildung.
Unterdessen schritt die Malerei fort
zu immer neuen Sprachen und Weltentwürfen,
während die Fotografie
sich abmühte, zu eigener künstlerischer
Form zu finden und die Mimikry
des Malerischen abzustreifen. Das
ist ihr inzwischen gelungen. Und nun
verheimlicht auch die Malerei die
Liaison nicht mehr, die sie von Anfang
an mit der Fotografie unterhielt.
Anfangs nutzte sie das fotografische
Bild, um besser zu sehen und die
Wirklichkeit präziser zu erfassen.
Heute sind fotografische und filmische
Bilder für den Maler nicht selten
Anregungspotential und Ausgangspunkt
für malerische Erkundungen.
Das trifft auch für die Malerei von
Christine Weber zu. Die von den fotografischen
und filmischen Medien
produzierten Bilder standen von Anfang
an im Zentrum ihres intellektuellen
Interesses. Und sie sind auch der
Gegenstand, dem sie als Malerin ihre
Aufmerksamkeit zuwendet. „Active
surface“, so heißt bezeichnenderweise
ein 2006 von der Neuen Galerie in
Graz herausgegebener Katalog zu
ihrem Werk. Die aktive Oberfläche,
um die es hier geht, charakterisiert
ebenso die bewegte Oberfläche der fotografischen
und filmischen Bilder,
aus denen Weber als Malerin schöpft,
wie den Erregungszustand ihrer Malerei.
Auch wenn sie ihre Malweise
selbst als „flach“ beschreibt und jeden
spezifischen Peinture-Ausdruck vermeidet,
vibrieren ihre Bilder doch von
subjektiver Lebendigkeit. Im Übrigen
folgt sie mit ihrer Malhaltung einer
alten Empfehlung des amerikanischen
Kritikerpapstes Clement Greenberg.
Mit der Unterdrückung eines illusionistischen
Raumgefüges wie eines individuellen
Pinselgestus verfolgt sie
zweierlei: Sie macht das Bild als Artefakt
kenntlich und sie ebnet willentlich
ihre künstlerische Rolle als
Ausnahmepersönlichkeit ein. Es geht
Weber in ihren Bildern nicht um die
Darstellung persönlicher Idiosynkrasien,
sondern um Statements zum sozialen
und politischen Status quo.
Damit ist die Malerin bei dem Filmemacher
Jean Luc Godard in bester
Gesellschaft. Der hat es sogar verstanden,
bei der Porträtierung der Rolling
Stone in „One plus One“ jede Idolatrie
zu vermeiden und ihre Einspielung
von „Sympathy for the Devil“
zum Lehrstück gesellschaftlicher Veränderung
zu machen. Schon sein
preisgekrönter Kultfilm „Außer Atem“
trug sozialkritische Züge. In „Weekend“
und „Pierrot le Fou“, den Filmen
Godards, von denen sich Weber zu
gemalten Bildreihen anregen ließ,
werden sie unübersehbar. Was bleibt
davon in der Malerei? Ohne die
Kenntnis der Filme als Folie des Geschehens
wenig. Anders als bei Webers
malerischer Umsetzung von
Pressebildern. Da diese sich auf einen
moment décisif (Henri Cartier-Breson)
der Fotografie konzentrieren, eine
militärische Parade, ein Dromedarrennen,
einen sportlichen Wettkampf,
fällt es dem Betrachter leicht, auch in
der Malerei einen Sinnzusammenhang
zwischen Signifikant und Signifikat
herzustellen.
In der Aneignung von Filmbildern
verfährt die Malerin dagegen sehr viel
freier als bei ihrer Umsetzung von
Pressebildern. Abstrahiert sie letztere,
indem sie Hinweise auf Zeit und Ort
tilgt, um sie so zu generalisieren und
die Reichweite ihrer Malerei zu vergrößern,
verändert sie erstere, indem
sie deren Schauplätze, Personen und
Handlungen in ihren Bildern zum
Teil ganz neu montiert. Dadurch entfernt
sie sich bewusst noch weiter vom
Kontext der von ihr genutzten Filme –
was sie auch durch die häufig nur
noch rudimentär an sie erinnernden
Titel ihrer Werke tut – und räumt
dem Betrachter ihrer Bilder eine größere
Auslegungsfreiheit ein. Die unterstreicht
sie auch auf der rein
malerischen Ebene, indem sie wie in
der Serie „Le Fou“ Bildpartien unausgemalt
lässt. Dabei folgt sie einer
Empfehlung Leonardos, die der große
Renaissancemaler einst seinen Künstlerkollegen
gab. Sie sollten, wie es
auch Christine Weber tut, ihre Bilder
nicht zu perfekt machen. Sie gewissermaßen
nicht zu Ende malen, um
im non finito Raum zu lassen für die
Fantasien des Betrachters. Der wird so
zum Koautor des Malers und vervollständigt
das Bild in seiner Vorstellung,
wo er es zu Ende malt und zu Ende
erzählt.
Michael Stoeber
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Christine Weber
geboren 1963 in Salzgitter,
lebt und arbeitet in Salzgitter und Berlin