Kaleidoskop der Stadt
Noch während ihres Studiums an
der HBK in Braunschweig hat Birte
Henning eine Fotoarbeit geschaffen,
wie sie für ihr Werk charakteristischer
nicht sein könnte. Es handelt sich um
die, der Fotoreportage nahe stehende
Bildserie „10 Orte“ (2004). Für die
Ausführung dieses Werks hat die
Künstlerin Bewohner Braunschweigs
nach ihren Lieblingsorten in der Stadt
gefragt, sich die Gründe dafür nennen
lassen und dann die Orte nach der Beschreibung
der von ihr Befragten aufgesucht
und fotografiert. Ein buntes,
sehr persönliches, kaleidoskopartiges
Porträt der Stadt Braunschweig ist auf
diese Weise entstanden. Darüber hinaus
auch ein sehr liebenswürdiges und
menschliches Bild der Stadt, in der die
Künstlerin 1965 geboren wurde und
in der sie bis heute lebt und arbeitet.
Nicht nur weil die Stadt immer wieder
als Motiv und Thema in ihrem Werk
auftaucht, ist diese Fotoserie charakteristisch
für das Schaffen von Birte
Hennig, auch wegen ihres erzählenden
Charakters und der direkten, zupackenden,
unprätentiösen Art ihrer
Bilder.
Hennig ist sich wie wenige sehr bewusst,
dass die Dinge in Fluss sind.
Dass wir daher niemals, wie Heraklit
so schön gesagt hat, in denselben
Strom steigen. Sie liebt die Fotografie,
weil sie, wie kein anderes Medium
außer dem Film, über die Fähigkeit
verfügt, diesen Fluss der Dinge anzuhalten.
Ihr Sosein in einem bestimmten
Augenblick in der Zeit und an
einem bestimmten Ort im Raum zu
fixieren. Was der französische Kulturphilosoph
Roland Barthes als das „So
ist es gewesen“ der Fotografie herausgestellt
hat. Dabei legt Hennig in ihrer
Kunst wenig Wert auf das eine, unverwechselbare,
über sich hinausweisende
Bild. Eher als dem moment
décisif (Henri Cartier-Bresson), dem
entscheidenden Augenblick, der eine
Aufnahme zum singulären Bild macht,
vertraut sie der Kraft der Serie, um ein
Thema vorzustellen und eine Idee
oder Vorstellung Bild werden zu lassen.
Auch wenn spätere Werkfolgen
von ihr auf den Text verzichten, der
die klassische Fotoreportage gewöhnlich
begleitet, verzichtet Hennig doch
nicht darauf, weiterhin zu erzählen
und ihre Aufnahmen um ein bestimmtes
Motiv herum zu organisieren.
In ihren Bildzyklen ist das Ganze
definitiv mehr als die Summe seiner
Teile.
Eine komplexe Wirklichkeit im Bild
zu ordnen und zu strukturieren, sie
aus unterschiedlichen Perspektiven zu
sehen, übersichtlich zu machen und
das Wesentliche an ihr zu erfassen, das
ist Birte Hennigs Sache. Ob sie Doppelhaushälften
fotografiert oder Umkleidekabinen,
Bombentrichter oder
Spielplatzbänke, stets geht es ihr in
ihren Bildern um die Herausarbeitung
eines ebenso Spezifischen wie Allgemeinen.
Nirgends schält sich das so
deutlich heraus wie im Vergleich.
Diesem Ziel ist auch der nüchterne,
unpathetische Charakter ihrer Aufnahm
en geschuldet, die sich stärker
an den Verstand des Betrachters als an
sein Gefühl wenden.
Das ist selbst dann der Fall, wenn sie
sehr emotionale Themen bearbeitet
wie in der sechsteiligen Serie „Wartezimmer“
(2006). Es handelt sich
dabei nicht um das Wartezimmer
eines Arztes oder Anwalts, sondern
um die Wohnung eines vereinsamten,
alten Menschen, der wartet: Auf Besuch,
auf Zuwendung, auf den Tod.
Die Fotografin zeigt uns statt seiner
die Dinge, von denen er umgeben ist.
Sie sprechen eine Sprache, wie sie
deutlicher nicht sein könnte.
Birte Hennigs Blick auf die Wirklichkeit
ist nicht nur analytisch, sondern –
fast zwangsläufig – auch kritisch wie
bei der im Salon Salder gezeigten
Bildserie „Flughafen“ (2011). Die
Künstlerin spricht im Zusammenhang
mit dem Werk von der Thematisierung
einer „Wunde der Stadt“, ist
die Erweiterung des Braunschweiger
Flughafens um eine zusätzliche Startund
Landebahn doch nur gegen große
Bürgerproteste zustande gekommen.
Sie dokumentiert die Bauarbeiten und
die Abholzung der Wälder unter einem
melancholisch grauen Himmel.
Als Stillleben im Sinne von nature
morte, nicht als lebendigen Arbeitsprozess.
Kein Mensch ist auf ihren ebenso präzisen
wie stimmungsvollen Bildern zu
sehen, nur triste Wasserlachen, abgestorbene
Blätter, abgehackte Baumstämme,
aufgeworfener Boden, weite
Baubrachen, leere Straßen, ein einsamer
Container. Zäune ziehen sich
durch die aufgerissene Landschaft
und markieren die Baugrenzen. Den
Bildern eignet keinerlei Euphorie. In
einem bewölkten Himmel zieht ein
winziges Flugzeug dahin. Es wirkt
verloren dort oben. Auf Birte Hennigs
Bildern wird kein Fortschritt bejubelt,
kein Gewinn angezeigt, sondern eher
ein Verlust beklagt.
Michael Stoeber
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Birte Hennig
geboren 1965 in Braunschweig,
lebt und arbeitet in Braunschweig