Salon Salder


I can taste your fear

Unter dem Titel „Totalreflexion“ hat die Künstlerin im Jahre 2010 einen Katalog ihrer Werke herausgegeben. Liest man den Titel des Buches von Susanne Roewer metaphorisch, nicht als Physiker, dann führt er hinsichtlich der Reflexion zur alten Bestimmung der Kunst als Spiegel. Wobei das Attribut „total“ eine zeitgemäße Erweiterung des Phänomens der Spiegelung anbietet. Die Totalreflexion eines künstlerischen Werkes kann nie nur bloße Mimesis sein, sondern beinhaltet notwendig ganz unterschiedliche Perspektiven. In ihnen vervielfachen sich die Bilder von ein und demselben Objekt. Sie beinhalten gleichermaßen Ein- und Mehransichtigkeit, Konstanz und Relativität, Präzision und Unschärfe und auch Geschichte und Gegenwart. Richteten wir unter der Prämisse der Totalreflexion mit Newton und Einstein unseren Blick auf ein und dieselbe Welt und Wirklichkeit, würde uns unser Bewusstsein sehr verschiedene Bilder zurückspiegeln.

Im Werk von Susanne Roewer zeigt sich die Totalreflektion in einer überströmenden Vielfalt von Materialien und Motiven, Gattungen und Sprachen. Die Künstlerin ist ebenso intensiv als Zeichnerin und Malerin wie als Bildhauerin tätig. In all diesen Disziplinen schöpft sie aus einem reichen Fundus. Auf einen Stil ist sie nicht festzulegen und will sie nicht festgelegt sein. In Salder zeigt sie Bronzeplastiken und auf einfaches Druckerpapier hingeworfene Zeichnungen. Aber genauso gut gibt es von ihr aus Glas geblasene und geätzte Skulpturen, andere aus Bast und Holz und Polyester oder aus Stahl, Marmor und Aluminium. Kein Material, das nicht zum Stoff ihrer Skulpturen werden könnte. Wobei sich in ihrem Werk beispielhaft der stoffliche, formale und inhaltliche Wandel der zeitgenössischen Plastik zeigt. Heute ist in der Bildhauerei alles möglich, die Verwendung von Marmor und Bronze ebenso wie die von Filz und Fett bei Joseph Beuys oder von Wasserdampf bei Robert Morris. Nicht anders sieht es bei Roewers Bildern aus. Zeichnungen auf MDF oder Leinen, Malerei auf beschichtetem Stahlblech und Solarsilicium. Dieselbe Experimentierfreude leitet sie auch im Inhaltlichen und Formalen. Kein Wunder, dass Betrachter ihrer Kunst sich an so unterschiedliche Künstler wie Francis Bacon, Henry Rousseau, Robert Rauschenberg, Sigmar Polke oder Peter Doig erinnert fühlen.

Unterschiedlich in ihren Anmutungen sind auch die Bronzeskulpturen, die Susanne Roewer in Salder zeigt. Nicht nur im direkten Vergleich miteinander, sondern ebenso als einzelne betrachtet, folgen sie keiner einheitlichen Faktur. „Solar-Plexus“ (2008) changiert zwischen Mensch und Monster. Obwohl auf einem Sockel stehend und in der klassischen Tradition des Torsos modelliert, ist die Figur alles andere als eine Allegorie des Guten, Wahren und Schönen. Sondern sie ist so verdreht und in sich verkrümmt, wie es keine figura serpentinata je war. Zugleich lädiert und blessiert, wird sie zu einer Art Sinnbild für den geschlagenen und niedergeworfenen Menschen der Moderne. Als symbolisch für ihren Status kann das ihr wie ein Tattoo eingeprägte Haupt der Gorgone gelten, von der es in der Antike hieß, dass jeder, der sie erblickt, vor Schreck zu Stein erstarren müsse. Zugleich verweist das Zeichen in der bronzenen Haut zusammen mit anderen auch auf die Sinn- und Identifikationssuche des modernen Men schen. Die trägt oft disparate Züge. Davon kündet nicht zuletzt der Sockel mit seinem wilden Mix an Stilen und Motiven.

Wie „Solar-Plexus“ verweist auch die Bronze „Gulliver“ (2011) in ihrem Titel auf den Menschen. Mit ihrem, namentlich an den Helden in Jonathan Swifts wohl berühmtestem Roman erinnernden Protagonisten macht Susanne Roewer Ungewöhnliches. Sie kippt ihn aus der stolzen Vertikale des homo erectus in die Horizontale und montiert ihn wie ein Innungs- oder Ladenzeichen an die Ausstellungswand. In dieser Haltung ruft Gulliver uns ins Gedächtnis, wie er zuerst unter die Zwerge und später unter die Riesen fiel. Und jedes Mal zur Verfügungsmasse eines fremden Willens wurde. Ein Dualismus bestimmt auch seine Gestaltung. Die Vorderseite ist nach Vorstellungen eines menschlichen Maßes recht harmonisch gestaltet, sein Rücken dagegen aufgerissen wie eine raue Gebirgslandschaft. Am Kopf hat er eine Art Henkel, an dem man ihn herumführen könnte wie einen Hund an der Leine. Eine conditio humana zum Fürchten. In Susanne Roewers comicartiger Bilderzählung „Rocks Under The Waves“ (2011) lesen wir dazu den treffenden Kommentar: „I can taste your fear.“

Michael Stoeber

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Susanne Roewer
geboren 1972 in Schlema,
lebt und arbeitet in Weil am Rhein