Salon Salder


WARTEN AUF OLIVER

„Für die Liebe sterben“ ist der emphatische und leidenschaftliche Titel des 2011 erschienenen Katalogs mit Werken von Joanna Schulte. Ihr gemeinsamer Fluchtpunkt ist die Liebe. Die Facetten, welche die Künstlerin diesem Thema abzugewinnen weiß, sind so vielgestaltig und komplex wie ihre Arbeiten. Der Videofilm und die Fotoserie „Hermannstr.“ (2010) handeln von der Sehnsucht nach Liebe, die sich in Alter und Einsamkeit durch das Dasein und die Fürsorge eines Anderen mitteilt. „Das Brautkleid“ (2010) inszeniert die Vorstellung von der einen und einzigen Liebe als märchenhaften Traum, der uns über die Tristesse einer oft elenden Gegenwart hinweg tröstet. „Von der Wiederkehr der Unordnung oder Repeat of Ordinary“ (2009) lehrt uns durch einen radikalen Perspektivwechsel die Wertschätzung ungeliebter Tätigkeiten und übersehener Dinge. „Sr. Paula“ (2011), eine Installation mit Klang im Kellergewölbe eines Ursulinenklosters, zeigt uns, dass die himmlische von der irdischen Liebe oft nicht sehr weit entfernt ist. Und die Fotoserie „Muttergedenken“ (2009–12) erinnert uns daran, wie sehr die Liebe der Mutter unser Leben in entscheidender Weise prägt.

Auch Schultes neue Werkserie „An Oliver“ (2012/13) stellt sich in den Dienst einer romantischen Liebe. Dabei ist die Arbeit ebenso politisch wie poetisch. Bei einem Künstleraufenthalt in Prösitz bei Leipzig ist Schulte auf alte Ersttagsbriefe aus der DDR gestoßen. In den Briefmarken auf den Umschlägen begegnen wir den Idolen des unter gegangenen Staates und mit ihnen den Wertvorstellungen, die dort herrschten. Manche empfinden wir im Westen befremdlich, andere teilen wir. Die „Prinzessinnengruppe“ des Berliner Bildhauers Johann Gottfried Schadow (1764 –1850), einem der bedeutenden Künstler des deutschen Klassizismus, wird überall verehrt. Neben den Briefmarken mit den Köpfen von Luise und Friederike hat die DDR auch eine Marke mit der Quadriga auf dem Brandenburger Tor herausgegeben, wohl das bekannteste Werk Schadows. Andere Marken huldigen dem Maler und Widerstandskämpfer Max Lingner (1888–1959), dem Fußball, dem Jahr des Friedens oder der 1839 eröffneten, ersten deutschen Ferneisenbahn zwischen Leipzig und Dresden.

1989 feiert eine Briefmarke den 28 Jahre alten „antifaschistischen Schutzwall“, wie in der DDR die euphemistische Bezeichnung für die Mauer lautete, die Deutschland – mit den für alle Beteiligten schrecklichen Kon - sequenzen – teilte. Drei Jahre zuvor, 1986 gedachte man dem 50. Jahrestag der Internationalen Brigaden – von der Kommunistischen Internationale rekrutierte und ausgebildete Freiwilligenverbände – ,die 1936 bis 1939 im Spanischen Bürgerkrieg gegen die nationalspanische Koalition kämpften.

Diese Umschläge nutzt Joanna Schulte, um in ihnen ihre Briefe „An Oliver“ zu versenden. In mehr als hundert Schreiben gibt sie ihrer Sehnsucht nach dem imaginären Geliebten Ausdruck. Sie frankiert sie mit gültigen Briefmarken – so rückt neben die Marken mit den Schadow- Porträts der preußischen Prinzessinnen eine Briefmarke, welche an die 200 Jahre alten Märchen der Brüder Grimm ( Jacob 1785–1863 und Wilhelm 1786–1859) erinnert – und setzt ihre jeweilige Atelieradresse auf die Briefumschläge. Da Oliver nur in ihren Träumen beheimatet ist, aber leider nicht auf der Erde, hat er hier auch keinen Wohnsitz. So fehlt seine Adresse auf den Briefen. Trotzdem wird jeder von ihnen von der deutschen Post ebenso sorgsam wie bürokratisch bearbeitet. Aber der auf jedem an die Absenderin retournierten Brief sich wiederholende, stereotype Hinweis „Empfänger nicht zu ermitteln“ ist stets aufs Neue ein Stich ins Herz.

Schultes Briefreihe ist beides: eine Eloge auf die romantische Liebe und eine Elegie ihrer Vergeblichkeit. Die sie begleitende Fotoserie, welche die Künstlerin als in jungfräuliches Weiß gekleidete Braut im Wartestand zeigt, könnte deutlicher nicht sein. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht zeigt sich Oliver ja doch noch eines Tages in einer den Himmel öffnenden Epiphanie. Nicht nur Joanna Schulte, wir alle warten in der einen oder anderen Weise auf Oliver. Wie bis heute Samuel Becketts (1906–1989) Tramps Estragon und Wladimir mit nimmermüder und beispielhafter Ausdauer auf den berühmtesten Abwesenden des modernen Theaters warten, auf Godot.

Michael Stoeber

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Joanna Schulte
geboren 1969 in Osnabrück,
lebt und arbeitet in Hannover