Die Arbeiten von Lotte Lindner & Till Steinbrenner sind
meist zeitlich begrenzt vorhanden, für einen bestimmten
Raum oder eine bestimmte Situation gemacht und gehen
präzise auf die Anwesenheit von Betrachter_innen als Teil
des Kunstwerks ein. Diese Anwesenheit und ihre Bedingungen
– der Raum, der Anlass und Kontext der Ausstellung
oder Performance, die Gepflogenheiten und ungeschriebenen
Regeln – bilden den Ausgangspunkt ihres
Arbeitsprozesses. Charakteristisch für die Arbeiten des
Duos ist, dass der Prozess in Präsentationssituationen hineingetragen
wird: Ausstellung und Performance begriffen
als Räume der Verhandlung und Produktion von Verhältnissen;
Bilder oder Objekte als Anstöße. Meist befinden
sich ihre Arbeiten nicht an der Wand oder auf einem
Sockel, sondern ereignen sich in Worten, Bildern, Wegen
und Handlungen, fordern auf, verhindern, ermöglichen,
umfangen, verdrängen, verdecken, versperren, legen frei, fügen
hinzu, entfernen, verbinden, trennen, rücken heran,
verschieben, füllen, leeren. Diese Liste von Verben beansprucht
keine Vollständigkeit, auch deshalb nicht, weil sie
für jede einzelne Arbeit und von jedem_r Besucher_in geschrieben
werden könnte und vermutlich nie gleich aussehen
würde. Eine „Verb List“ machte 1967–68 auch der
Bildhauer Richard Serra. Er legte damit ein Repertoire für
seinen Umgang mit Materialien und den Bezug auf Orte
an. Diese Liste wirkte auf mich wie ein Schlüssel zu einem
Werk, das durch die Aufzählung von Handlungen klar als
Praxis und als Prozess erkennbar wurde. Seit der Begegnung
mit ihr begleitet mich Serras Auflistung als Denkfigur:
Welche Tätigkeiten liegen einem Werk zugrunde
oder auch: Welche regt es an? Welche ermöglicht oder verhindert
es? Was fordert es von seinem Gegenüber?
Im Fall von Lotte Lindners & Till Steinbrenners skulpturalen
oder performativen Setzungen wird meist Anteilnahme
gefordert – und eine durch das körperliche und geistige
Involviert-Werden hervorgerufene Verunsicherung
eingeübter oder unhinterfragt angenommener Verhaltensund
Sichtweisen genährt. Indem ein wesentliches Element
ihres Arbeitsprozesses das intensive Durchdenken
und Hinterfragen der Notwendigkeit des Gegebenen und
ein Öffnen des Status Quo auf ein mögliches Anderes hin
darstellt, werden erst einmal Bequemlichkeiten und Sicherheiten
gestört. Mit den zwei Arbeiten „Europa I
(Wolke)“ und „Europa II (Container)“ reagieren Lindner
& Steinbrenner auf die derzeit explizit oder indirekt geäußerte
Störung von Bequemlichkeit und Sicherheitsgefühl
vieler Bürger durch die Flüchtlingsströme nach
Europa. Ein Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit ist beispielsweise
die im Juli 2015 stark diskutierte Google-
Maps-Karte „Kein Asylantenheim in meiner Nachbarschaft“,
die von der rheinland-pfälzischen rechtsextremen
Partei „Der III. Weg“ erstellt wurde. Auch in alltäglichen
Gesprächen wird immer häufiger eine mutmaßlich ungerechte
Geldverteilung angesprochen, die vermeintlich ausbleibende
Straßenerneuerung oder Investitionen in öffentliche
Einrichtungen wie Schulen gegen Flüchtlingshilfe
aufwiegt. Der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ wird ins
Spiel gebracht, von Platzmangel und Überforderung ist die
Rede. Hier stehen Werte wie Gerechtigkeit, Solidarität
und Menschlichkeit zur Debatte. Dabei ziehen die Bilder
der überfüllten Flüchtlingsboote vorbei, rütteln kurz auf
und haben doch mit der alltäglichen Lebenswelt nichts zu
tun. Im Hof des Schlosses Salder „schwebt“ eine Wolke.
Die Arbeit „Europa I (Wolke)“ besteht aus handelsüblichen
Kinder-Gummibooten und anderen aufblasbaren
Wasserspielzeugen, die mit Afrika- und Hai-Motiven bedruckt
sind und zu einer Wolkenform zusammengeschnürt
wurden. Im Inneren des Schlosses findet sich die Wolkenform
wieder, diesmal im Original-Kontext auf einem
Foto. Es ist, bis auf den blau-weißen Wolkenausschnitt,
schwarz-weiß und zeigt ein riesiges übervolles Schlauchboot
mit Flüchtlingen auf dem Mittelmeer. Die Wolke auf
diesem durch Lindner & Steinbrenner bearbeiteten Bild
weckt eher positive Assoziationen: Hoffnung, Aufbruch,
Schutz. Das Kinderspielzeug mit Afrika-Motiven in Wolkenform
hingegen erscheint im Zusammenhang mit dem
Foto nicht mehr als spielerische Komposition harmloser
Sommeraccessoires, sondern als Symbol für einen Einbruch
anderer Realitäten in rundum abgesicherte Wohlstandsgesellschaften.
Die Arbeit „Europa II (Container)“ verschränkt Materialien,
die auf Seewege und große Transportstrecken hinweisen,
zu einer raumgreifenden Skulptur, gebaut aus
Euro-Paletten. Ihre Maße entsprechen mit 5,9 m x 2,4 m
x 2,4 m denjenigen eines kleinen Seefracht-Containers.
Der Hohlraum im Inneren wurde mit Maispellets gefüllt,
die verwendet werden, um empfindliche Gegenstände in
Versandkartons zu schützen. Auf amazon, zalando und
ähnlichen Plattformen bestellte Dinge gelangen so unbeschädigt
zu den neuen Besitzern_innen, die diese Dinge im
Zweifelsfall wieder zurückschicken, neue bestellen usw.
Die Pellets quellen aus den Palettenzwischenräumen hervor,
ihre Anzahl sprengt die Aufnahmefähigkeit des Palettenstapels,
so dass sie in den Raum der Besucher_innen
dringen, der ohnehin von dem „Paletten-Container“ fast
vollständig eingenommen wird. Raumnutzung, Verteilung
und das Ausfüllen von Leerraum – wer füllt was auf welche
Weise? Wer profitiert wovon und zu welcher Zeit? Wer
bedroht wen und wodurch? Und was haben Gummiboote,
Flüchtlinge, Euro-Paletten und Maispellets mit unserem
Leben zu tun?
Kathrin Meyer
Vgl. etwa Alice Hesters: Rechte Karte aus dem Netz genommen,
Tagesspiegel online, 17.07.2015. URL: http://www.tagesspiegel.
de/medien/fremdenfeindlichkeit-im-internet-rechte-karteaus-
dem-netz-genommen/12061912.html (abgerufen am 26.
Juli 2015).
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Lotte Lindner
geboren 1971 in Hannover
lebt und arbeitet in Hannover
Till Steinbrenner
geboren 1967 in Hannover,
lebt und arbeitet in Hannover