Salon Salder


Weg zum Wesenhaften

Bei kaum einer Künstlerin macht die Rede von der Verbindung von Kunst und Leben so viel Sinn wie bei Ina Falkenstern. Nicht, dass sie dabei notwendig Motive und Themen ihrer Biographie in die Kunst übertrüge, sondern Leben und Kunstmachen sind bei ihr in außerordentlicher Weise aufeinander bezogen. Es geht dabei erst einmal weniger um das vollendete Werk, sondern vornehmlich um den Prozess seiner Herstellung. Insofern könnte der Titel einer ihrer Werkserien, „tao“ (2008), die bereits während ihres Studiums an der HBK in Braunschweig entstand, aussagekräftiger nicht sein. Tao meint im Konfuzianismus Weg. In dieser Lehre wird vor dem Ziel der Weg dorthin, also das Gehen und die Anstrengung der Fortbewegung, in den Blick genommen. In Analogie dazu richtet die Künstlerin ihre Konzentration in präziser Selbstbeobachtung auf das Kunstmachen. Sie will das von ihr glänzend beherrschte Medium der Zeichnung nicht in rein mimetischer Weise einsetzen und sucht nach neuen Artikulationsformen. So nimmt sie für „tao“ eine Anleihe bei der surrealistischen „écriture automatique“ in Form halbbewussten „Kritzelns“. Das führt sie zu mandalaartigen Motiven, die sie immer weiter fortführt von ihrer anfänglichen Ornamentik und am Ende gänzlich entleert.

Als Ina Falkenstern so weit ist, hat sich der eher somnambule Zustand des Zeichnens in einen hoch reflektierten, intentionalen Prozess mit klaren Parametern verwandelt. Plötzlich weiß sie ganz genau, was sie will: die Mandalas reduzieren und abstrahieren. Auf insgesamt 100 Blättern quadratischen Formats, zeichnet sie, beginnend in ihrer Mitte, mit schwarzem Fineliner Ring für Ring kleine Striche. Die Ergebnisse sind bestechend. Die Mandalas erscheinen als von allem rein Attributivem und Ablenkendem befreit und in hinreißender Weise purifiziert. Es ist, als sei Falkenstern in platonischer Weise zu ihrem inneren Selbst, zum Ideen- und Wesenhaften, zu ihrer spirituellen Essenz vorgedrungen. Nicht weniger als das visiert sie auch in ihren darauf folgenden Werkserien an. In „nulla dies sine linea“ (2009/10) geht der Prozess vom anfänglichem Abzeichnen von Pflanzen hin zu ihrer Fiktionalisierung, also vom sichtbaren zum imaginären Bild, wieder nach klaren, selbst auferlegten Vorgaben. Der Titel, „Kein Tag ohne Linie“, prononciert sehr deutlich die existenzielle Dimension, die das Kunstmachen für die Künstlerin hat. Und die Werkserie „blind“ (2011), in der erneut Pflanzen das Motiv bilden, führt über das Experiment, sie blind zu zeichnen, hin zur konsequenten Ausarbeitung innerer Bilder. Dieser Weg von Außen nach Innen, der sich im Werk von Ina Falkenstern erkennen lässt, ist von hoher Spiritualität. Er prägt auch ihre Diplomarbeit „Schwarz und Weiß„ (2012). Einmal mehr von Pflanzenbildern ausgehend, kulminieren die zeichnerischen Prozesse in bewegten und atmenden, sich verdichtenden und auflösenden Strichlandschaften, in denen das Werden und Vergehen der Natur selbst aufgehoben zu sein scheint. Auch die Werke für den Salon Salder folgen strengen Parametern: Es gibt ein identisches Motiv, zwei Blattformate (28,2 cm x 40,5 cm und 39 cm x 56,4 cm) und eine mehr oder weniger gleichförmige, ritualisierte Ausführung per Fineliner. Das Motiv besteht aus einem Quadrat, das zwei treppenförmige Diagonalen durchkreuzen, die ein X bilden. Wie schon die Mandalas der „tao“-Serie und die Bilder von „schwarz und weiß“ bestehen sie aus identischen Strichfolgen. Sie stehen in den vier dreieckförmigen Kompartimenten, welche die Diagonalen bilden, gegenläufig zueinander, was sie in Spannung hält. Im Zentrum, Ausgangspunkt der Zeichnungen, rücken ihre Striche enger und kürzer aneinander, sodass man glaubt, dort gelegentlich ein schattenhaftes, kleineres, zweites Quadrat zu erkennen. Eine Art dunkles alter ego des lichteren, größeren Quadrats, dem sie eingeschrieben sind.

Die Werke „o. T.“ (2015) erscheinen wie Pyramiden in der Draufsicht. Ihre streng regulierte Form setzt einen schönen Kontrapunkt zu dem tranceartigen Ritual ihrer Verfertigung, nachdem Motiv, Form und Konzeption gefunden wurden, und von dem die Künstlerin nicht nur hinsichtlich dieser Werkserie spricht. Die Zeichen, die sie bilden, Quadrate, Dreiecke und Kreuz, gehören zum uralten kulturellen Bestand der ganzen Menschheit. Sie werden überall auf der Welt in vielfältiger Weise als Symbole verwandt und tauchen sowohl in mathematischen als auch religiösen, ideologischen, politischen und sozialen Kontexten auf. Sie sind Symbole, die zugleich Ideogramme sind. Als solche eignet ihnen eine hohe spirituelle Potenz und Kompetenz. In dieser Eigenschaft verbinden sie sich in konsequenter und überzeugender Weise mit den übrigen Werkserien von Ina Falkenstern.

Michael Stoeber

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Ina Falkenstern
geboren 1982 in Braunschweig,
lebt und arbeitet in Braunschweig