Salon Salder   Salon Salder  


UBIQUE
Kunst im Salon Salder — überall

Salon Salder 2014 bietet wieder neue Kunst aus Niedersachsen – diesmal zu einem Thema „ubique“. Der Begriff kommt aus dem Lateinischen und bedeutet überall – allgegenwärtig, überall vorkommend. Jedes Jahr bieten wir im Salon Salder neue Kunst an, er ist also alljährlich allgegenwärtig – und Kunst sollte überall vorkommen – denn was wäre ein Leben ohne die Kunst.

Der Begriff des ‚Salons‘, der bereits im 19. Jahrhundert geprägt wurde, weist darauf hin, dass in Salder die Kunstausstellungen ein Treffpunkt von Künstlerinnen und Künstlern und dem Publikum sind, in dem sich, entsprechend früherer Salons, ein Gedankenaustausch entwickelt und Gespräche mit Künstlern möglich sind.

Treffen Sie im diesjährigen Salon Salder auf die „wilden Kerle“ des gebürtigen Salzgitteraners Jan Thomas. Die Plastiken von Michael Nitsche in Form von Affen, Elefanten, Rehen, Vögeln und allerlei anderem Getier bilden eine ganz neue Spezies, die üblich für Ubiquisten – standortungebunden, ihren Lebensort im Salon Salder gefunden haben. Weitere Weggefährten im Salon Salder sind die vereinsamten, vereinzelten Figuren von Hans Karl auf der Suche nach menschlicher Nähe. Roland Dörflers Thema war immer der Mensch mit allen seinen Befindlichkeiten.

Seine existentielle Figuration in der Malerei ist ebenso ausdrucksstark wie die großen beeindruckenden Tuschen von Hanna Nitsch mit dem Titel „trying to be like“, die ein junges Mädchen zeigen. Ein Familienalbum der besonderen Art präsentiert uns Katrin Ribbe in Form von „Deer Family“. Birte Hennig dokumentiert in ihren Fotografien familiäre Nähe im Bewusstsein, dass diese nur für einen kurzen Moment auf „Augenhöhe“ stattfindet. Hannes Malte Mahler züchtet auf dem Museumshof Sukkulenten, in der Hoffnung, dass Sie sich ubique ausbreiten. Josefh Delleg’s Installation lautet „Home Sweet Home“ – der Titel verheißt Geborgenheit, Beständigkeit, Glück und Familie. Dies ist jedoch nicht seine Intention. Lassen Sie sich überraschen von ubiquitärer Kunst im Salon Salder und begrüssen Gemälde, Zeichnungen, Fotografien und Skulpturen, die im ehemaligen Kuhstall des Schlosses Salder für kurze Zeit einen neuen Lebensort gefunden haben.

Besonderer Dank für die fachliche Würdigung der Künstlerinnen und Künstler des Salons Salder 2014 gilt Pia Kranz, Maik Schlüter und Michael Schwarz, für das Essay zum Thema danken wir Michael Stoeber.


Dr. Jörg Leuschner
Leiter des Fachdienstes Kultur

Stephanie Borrmann, M.A.
Kuratorin der Städtischen Kunstsammlungen



______________________________________________________________________


Evolutionäre, Ordnungssystematiker und Ubiquisten
Der Salon Salder im Jahr 2014

von Michael Stoeber

Das Thema des diesjährigen Salon Salder hat sich in einem gedanklichen Dreischritt entwickelt. Von der Evolution über die Ordnungssysteme zu den Ubiquisten als Leitmotiv der Ausstellung. In Letzterem steckt das lateinische Wort „ubique“, das im Deutschen „überall“ bedeutet. Für den Biologen sind Ubiquisten Tier- oder Pflanzenarten, die nicht an einen einzigen Lebensraum gebunden sind, sondern die eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensräume besiedeln können. Der Ökonom versteht unter ubiquitär vorhandenen Waren solche, die im Prinzip überall auf der Welt verfügbar sind, wo es genug Geld gibt, um sie zu kaufen. Und für den Theologen ist Gott in seiner Allgegenwart der Ubiquist par excellence. Wo immer Gläubige an der Eucharistie teilhaben, ist der Herr anwesend. Nur, in welcher Weise sind Künstler Ubiquisten? Jedenfalls nicht notwendig in dem Sinne, dass sie auf der ganzen Welt auftauchten und omnipräsent wären. Obwohl die stark gefragten unter ihnen schon ganz schön herumkommen mit Ausstellungen ihrer Werke auf allen fünf Kontinenten. Ubiquisten sind Künstler eher in metaphorischer Weise, weil sie einen äußerst beweglichen Kopf haben, und die besten unter ihnen das schöne Wort ihres Kollegen Francis Picabia, „Der Kopf ist rund, damit er beim Denken die Richtung ändern kann“, gewissermaßen als Motto ihres Schaffens verinnerlicht haben. Diese Beweglichkeit ist eine Qualität, die einer Universalie gleich zu allen Zeiten einen guten Künstler ausgemacht hat. Darüber hinaus kann man am Begriff des Ubiquisten für den Künstler der Gegenwart aber auch ablesen, wie sehr sich sein Selbstverständnis und zum Teil auch die Vorstellung von seinem Werk in der Moderne verändert haben. Als der spanische, in Mexiko lebende Künstler Santiago Sierra vor einigen Jahren einer Einladung der hannoverschen Kestnergesellschaft zu einer Ausstellung folgte, kam er ohne Werke. Die entstanden erst vor Ort, wobei sein Kopf sein Atelier war. Kunst buchstabiert sich für ihn wie für viele seiner Kollegen heute nicht als Können, wie die beliebte Phrase lautet, sondern als Denken können. Sierra studierte die Verhältnisse der Stadt in Geschichte und Gegenwart und aus diesem Studium resultierte sein Werk, das die Hannoveraner seinerzeit lange in Atem hielt und – ungewöhnlich genug – selbst die Bildzeitung auf den Plan rief und zur Kunstkritik ermutigte.

Die Künstler der Ausstellung in Salder unter dem Begriff der Ubiquisten zu versammeln, heißt in ihren Werken eine ähnliche Signatur zu erkennen. Der Ubiquist ist ein Künstler, der an ganz unterschiedlichen Orten tätig sein kann, weil er die Welt nicht nur als Bühne seiner Ausstellungen, sondern immer wieder auch als sein Atelier begreift. Darüber hinaus ist er jemand, der sehr präzise, die Ausstellungsbedingungen reflektiert, mit denen er es von Fall zu Fall zu tun hat. Er schaut genau auf Ort und Thema seiner Kunst und versucht, darauf in formaler und inhaltlicher Weise angemessen zu reagieren. Wobei angemessen in der Kunst heißt, sein Publikum zu überraschen und in Erstaunen zu setzen. Ihm Bilder zu zeigen, die es so noch nicht gesehen hat, Gedanken in ihm zu wecken, die es so noch nicht gedacht hat und es fühlen zu lassen, was es so noch nicht gefühlt hat. Denn was sonst sollte wohl jemanden veranlassen, eine Ausstellung zu besuchen, die all das zu tun nicht in der Lage ist und ihm lediglich zeigt, was er eh schon gesehen hat und ihn lehrt, was er eh schon kennt und weiß? Dafür braucht es kein fundamentales Neubuchstabieren der Welt durch den Künstler. Oft reicht schon eine kleine Kontextverschiebung zu einem Augen öffnenden Sehen und Verstehen. Santiago Sierra erreichte das, indem er den Schlamm des hannoverschen Maschsees in den Räumen der Kestnergesellschaft verteilte und in Zeiten der Ein-Euro-Jobs den Blick auf die Entstehungsgeschichte des Sees in der Nazizeit lenkte. Wie die Ubiquisten in Fauna und Flora im Gegensatz zu den Spezialisten der Biosphäre Generalisten sind, so sind Künstler neugierig, fremde Orte und andere Kulturen kennen zu lernen und in ihren Werken auf sie zu reagieren. Schon Albrecht Dürer hielt es nicht im heimischen Nürnberg, sondern er zog nach Italien und in die Niederlande, um dort die bedeutenden Maler seiner Zeit zu studieren und von ihnen zu lernen. Leonardo da Vinci schuf wichtige Werke im Dienste des französischen Hofes, erst im Auftrag seines Gönners Ludwig XII., dann für dessen Nachfolger Franz I.. Giorgio Morandi dagegen reiste nur in seinem Kopf. Er verließ so gut wie nie das heimische Bologna, lebte dort mit seinen Schwestern und malte sein Leben lang ausschließlich Flaschen, Becher, Kannen und Krüge. Aber in ihrer Darstellung wusste er, Mensch und Welt neu zu entdecken.

Das Thema der Ausstellung hat sich in einem Dreischritt entwickelt, weil die Begriffe Evolution, Ordnungssysteme und Ubiquisten in gewisser Weise eng miteinander zusammen hängen. Der Gedanke an Evolution war früh da, weil der Kunst das Gesetz eines permanenten Fortschreitens fast naturgesetzlich eingeschrieben zu sein scheint. Ist sie nicht zum Untergang verdammt, wenn sie sich nur noch wiederholt und nicht weiterentwickelt? Steht nicht gerade die Kunst der Moderne unter dem Gesetz des ständigen Neuentwurfs?

Nachdem die Entdeckung der Fotografie in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Mimesis in der Malerei, also die naturgetreue Nachahmung von Welt und Wirklichkeit, obsolet gemacht hat, überschlagen sich bis heute die Erfindungen immer neuer Kunstsprachen: Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Abstraktion, Neue Sachlichkeit, Konkrete Kunst, Abstrakter Expressionismus, Popart, Performance, Konzeptkunst, Minimalismus, Transavantguardia, Bad Painting, Wilde Malerei, Neue Leipziger Schule, um nur einige zu nennen, und kein Ende. Im Beuys-Raum des Münchener Lenbachhauses hängt ein Foto, das eine im Düsseldorfer Atelier des Künstlers aufgebaute Installation zeigt. Sie stammt aus dem Jahre 1965, und Joseph Beuys hat sie Evolution genannt. Eine Kreidezeichnung auf dem Boden, die er zur Hälfte durch Knochen ergänzt hat, präsentiert ein, von einem Eisengitter geschütztes Mischwesen aus Fisch, Vogel und Widder. Das Werk ist ebenso abstrakt wie konkret. In der Vielzahl seiner in ihm angelegten Seins- und Bedeutungsmöglichkeiten demonstriert es wie unter einem Brennglas die Überzeugung des Künstlers, dass es für den Menschen notwenig ist, sich immer neu zu erfinden. Sozusagen als eine Variante des Nietzscheanischen „Stirb und Werde“. Unter diesem Aspekt gilt es auch einen der am Meisten missverstanden Sätze des Meisters der „Sozialen Plastik“ zu verstehen: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Mit dem Satz wollte Joseph Beuys keineswegs darauf hinwirken, dass wir nun alle anfangen sollten, zu malen oder sonst wie künstlerisch tätig zu werden. Sondern wir sollten doch, bitte, begreifen, dass unser eigenes Leben der künstlerische Stoff ist, der uns zur Gestaltung gegeben wurde. Und was wir aus ihm machen, aus unserem Leben, wird dereinst darüber entscheiden, ob man uns nach unserem Tode einen Künstler oder Dilettanten nennen wird.

Von der Betrachtung der stets zugleich im Sozialen und Persönlichen verankerten Kunst von Jospeh Beuys, dem wir so schöne Sentenzen verdanken wie „Wer nicht denkt, fliegt raus“, „Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt,“ oder „Ich denke sowieso mit dem Knie,“ wandern die Gedanken wie von selbst zu den anderen beiden Themen. Nicht von ungefähr spielen 0rdnungssysteme eine große Rolle in den Werken zeitgenössischer Künstler. Schon immer hat die Kunst die Aufgabe einer nicht selten mit religiösen Zügen ausgestatteten Selbstvergewisserung des Menschen gehabt. Daher kennen wir von Johann Wolfgang von Goethe das stolze Wort: „Wer Kunst hat, hat auch Religion.“ Was nichts anderes heißen sollte als „Wer mich liest, kann auf die Kirche verzichten.“ Mit dem drohenden Zusatz versehen: „Wer aber keine Kunst hat, der habe Religion!“ In anderen Worten: „Wer mich nicht liest, der suche sein Heil in der Kirche, sonst bricht womöglich alles zusammen.“

Ordnungssysteme sind existenzielle Prothesen par excellence, die in Zeiten „transzendentaler Obdachlosigkeit“ (Günther Anders) wichtiger sind als je zuvor. Für den, der sie in oft manischer Hingabe erfindet und exekutiert, nicht weniger als für den, der sie als künstlerische Werke betrachtet und reflektiert. On Kawara, Roman Opalka und Hanne Darboven, alle leider in den letzten Jahren verstorben, waren beispielhafte und obsessive Systematiker eigener, von ihnen erfundener Ordnungssysteme, mit denen sie sich im Leben einrichteten. So hat Hanne Darboven im Laufe der Jahre Zehntausende von Schreibmaschinenseiten mit nicht enden wollenden Schriftzeichen und Zahlenkolonnen bedeckt, in denen sie sich in einem „leeren, tautologischen Schreiben“ ( Johannes Meinhardt) ihrer eigenen Existenz versicherte und vor allem eines dokumentierte, das Vergehen von Zeit. „Ich schreibe, aber ich beschreibe nichts,“ hat sie über ihr Werk gesagt. Aber sie hat sich ihrer Existenz nicht nur im Abschreiben versichert, sondern auch in seriellen Notationen, in denen sie Additionen oder Quersummen aus Kalenderdaten bildete und die sie „mathematische Literatur“ nannte. Eine Art von spiritueller Übung, die für sie überall auf der Welt möglich war. Logischerweise heißt eines ihrer Werke, es sind 13 mit Kugelschreiber beschriftete Postkarten aus dem Jahre 1983, denn auch Ubiquist. Das war sie ganz bestimmt, eine Ubiquistin.