Alles oder nichts
Eine Umarmung ist eine universelle Geste. Eine Form
der Berührung, die von der oberflächlichen Begrüßung
bis hin zur existenziellen Notwendigkeit ein ganzes Spektrum
an Gefühlen und Bedeutungen impliziert. Umarmungen
sind alltäglich: Freunde, gute Bekannte, Kollegen,
Partner und Verwandte umarmen sich zu allen
möglichen Anlässen. Die Umarmung markiert einen
deutlichen Unterschied zum Handschlag, der als höfliche
Geste nicht mehr als eine wohlwollende Attitüde der Begrüßung
oder Verabschiedung darstellt. Man kann auf
diese und andere Berührungen auch gänzlich verzichten
und die spezifische Distanz einer Begegnung durch ein
leichtes Heben der Hand, ein Kopfnicken oder ein Augenzwinkern
gestisch und mimisch unterstreichen. Das
Repertoire der Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale
ist vielfältig und unterstreicht meist eine verbale Form der
Anerkennung, der Wahrnehmung und Wertschätzung.
Umarmen bedeutet eine Grenze zu überschreiten und das
Gesicht, den Körper, den Atem und den Geruch des
Gegenübers, wenn auch kurz, anzunehmen und zu spüren.
Diese Nähe kennt Schattierungen: sie kann leicht,
prätentiös, herzlich, warm, burschikos, verklemmt oder
plump sein. Eine Umarmung birgt immer die Gefahr, als
unangemessene Geste aufgenommen zu werden. Die
Entscheidung, wann ich jemanden umarme, ist weniger
Verhandlungssache als vielmehr eine Frage der Intuition.
Die Verweigerung einer Umarmung kann ein soziales
Delikt sein.
Eltern umarmen ihre Kinder im idealen Fall gerne und
immer wieder. Der Impuls und die Botschaft sind eindeutig:
Du gehörst zu mir, ich liebe dich, ich schütze dich,
ich zeige dir meine Anerkennung, ich gebe dir meine
Wärme, Sicherheit und Geborgenheit. Und auch die
Kinder suchen diese Nähe und Zuwendung. In Birte
Hennigs Arbeit Umarmung sieht man, wie sich zwei
Personen umarmen: Mutter und Sohn. Die zweiteilige
Präsentation ist wie eine Versuchsanordnung vor neutralem
Hintergrund klar fokussiert. Zwei Bilder mit zwei
unterschiedlichen Aussagen: Einmal umarmt die Mutter
den Sohn oberhalb der Schultern, auf dem zweiten Bild
ist die Position der Personen umgekehrt dargestellt. Gestisch
betrachtet, ist es lediglich ein gradueller Wechsel,
den man schnell übersehen könnte. Physiologisch und
psychologisch betrachtet, handelt es sich allerdings um einen
fundamentalen Sprung innerhalb der Mutter-SBeziehung.
Die Abhängigkeit von den Eltern zu überwin
den ist ein elementarer Schritt auf dem Weg vom Kind
zum selbstbestimmten Individuum. Jede Umarmung
spiegelt den jeweiligen Status einer Beziehung. Die
schützende und behütende Geste wird zur respektvollen
Anerkennung, dann zur gleichberechtigten Begegnung
oder auch in der Umkehrung des Beziehungsgefälles zur
Fürsorge der erwachsenen Kinder für die alten Eltern.
Umarmungen sind Grunderfahrungen körperlicher Nähe
und bilden die Basis für viele weitere Nuancierungen
von Annäherungen. Das Spektrum ist weit. In den Armen
eines anderen kann man sich fallen lassen oder gefangen
sein. Die sexuelle Ekstase kennt die Umarmung
genauso, wie die Trauernden sie als tröstende Geste erfahren.
Die Umklammerung ist eine Steigerung der
Umarmung und kann zum physischen Zwang werden.
Inbesitznahme, Verlustangst, Disziplinierung oder die
Abwehr dieser Ausdrucksformen und Handlungsweisen
liegen in der Erfahrung der Umarmung begründet.
„The Hug“ (1980) heißt ein Bild der amerikanischen
Fotografin Nan Goldin: eine Frau wird von einem nackten
und muskulösen männlichen Arm um die Hüfte
herum umarmt. Man sieht auf diesem Bild keine Gesichter.
Ob diese Umarmung freundschaftlich, helfend,
begehrend oder überwältigend gemeint ist bleibt offen.
Wie viele Bilder von Nan Goldin stammt diese Fotografie
aus ihrem persönlichen Umfeld, ist situativ entstanden
und zeigt eine alltägliche Szene in dynamischer
Komposition. Die Dynamik verleiht dem Bild oder der
gezeigten Szene eine Instabilität, die eine unterschwellige
Bedrohung suggeriert. Birte Hennigs fotografisches Vorgehen
steht diametral zu dieser Bildsprache. Ihre Anordnung
ist nüchtern und klar. Die Umarmung folgt einem
jeweils vorgegebenen Ablauf und zeigt exemplarisch
und zurückhaltend die Veränderung innerhalb der Begegnung.
Auch wenn es sich um ein privates Umfeld und
damit um die intime Beziehung zwischen Mutter und
Sohn handelt, bleiben Blick und Darstellung kühl und
analytisch. Birte Hennig zeigt die Vieldeutigkeit einer
Geste: Eine Umarmung kann alles oder nichts bedeuten.
Maik Schlüter
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Birte Hennig
* 1965 in Braunschweig, lebt und arbeitet in Berlin