Salon Salder


Family Fiction

„So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt Männer, Frauen und Familien, und die Regierung kann nicht die Verantwortung für deren Leben übernehmen.” Margaret Thatcher gab dieses Statement 1987 ab und rechtfertigte damit eine Politik der Ausgrenzung und der permanenten sozialen und ökonomischen Legitimation. Ein einfacher politischen Schachzug: Wenn es keine Gesellschaft gibt, dann gibt es auch keine Verantwortung, keine Moral, keinen Konsens und keine übergreifende soziale Idee. Jeder und Jede kämpft für sich und seine Familie. Und in vielerlei Hinsicht war die britische Gesellschaft unter der Regierung Thatcher ein soziales Desaster, durch das jeder ethische oder moralische Wert des Zusammenlebens nachhaltig zerstört wurde. Unabhängig davon, gab es die ideologisch gefärbte Vorstellung von der Familie als Keimzelle der Gesellschaft. In der Familie sollte eine probate Absicherung gegenüber den Unwägbarkeiten des gesellschaftlichen Lebens stattfinden. Besonders konservative Kreise nahmen dieses Bild dankbar auf, um gegen diejenigen zu argumentieren, die in anderen sozialen Bezügen leben wollten. Die Vorstellung und Funktion der Familie war und ist besetzt mit gesellschaftlichen und psychologischen Konflikten. Das Bild der Familie kann niemals als ein unschuldiges oder sentimentales Konstrukt einer persönlichen Situation gesehen werden. Waren die 1980er Jahre ein Jahrzehnt, in dem ein aggressives ökonomisches Gebaren und eine urbane Vereinzelung vorangetrieben wurden, standen die 1960er Jahre zunächst noch für das Gegenteil. Familien sind zu dieser Zeit strikt konstruiert: Rollen, Regeln, Abhängigkeiten und Besitztümer sind klar verteilt. Erst allmählich weicht dieses Model auf, wird sich aber unter wechselnden Vorzeichen immer wieder behaupten. Von der Great Society, wie sie noch in der 1960er Jahren als Ideal in den USA propagiert wurde, bis hin zu dem Prinzip der Vereinzelung à la Margaret Thatcher ist es ein erstaunlich kurzer Weg. Die Fotografin Katrin Ribbe zeigt in Deer Family Bilder einer Familie, die es nie gab. Die Protagonisten auf ihren Bildern wurden von der Fotografin ausgesucht und inszeniert. Die Familienidylle dieser Bilder ist eine fotografische Rekonstruktion. Sie folgt den Stereotypen des vermeintlichen Glücklichseins und seiner Übersetzung in die Fotografie. Die Soziologie und Bildwissenschaft kennt diese Bilder: Sie finden sich in unterschiedlichen Konstellationen und zu unterschiedlichen Zeiten in nahezu jedem Fotoalbum, da alle demselben feierlichen Procedere von Geburtstagen, Weihnachten, Thanksgiving oder anderen Festen folgen. Immer steht die Familie, ihr Beisammensein, ihr Rollenspiel und die jeweilige Inszenierung im Mittelpunkt. Meistens werden diese Bilder unbewusst produziert. In dieser Hinsicht sind Familienfotografien ein soziales Psychogramm und ein Spiegel der Gesellschaft. Dass es eine Gesellschaft gibt steht außer Frage. Dass die Gesellschaft auf die Familie in Form von Politik und sozialen Normen beständig einwirkt ist ebenfalls unstrittig. Dass Familien auch psychologische Minenfelder sind, dass in ihnen alles Abgründige und Schreckliche genauso aufbewahrt ist wie die Prämissen einer liebevollen Erziehung und des gegenseitigen Vertrauens steht auf einem anderen Blatt. Soziale Konstruktionen und Fotografien bedingen und bestätigen einander, dabei kann man aber nie sicher sein, wie wahr und wirklich die Erinnerung und das vermeintliche Dokument im Fotoalbum sind. Bei Katrin Ribbe fällt die Reinszenierung des Sujets nicht sofort auf. Der ohnehin fragile Unterschied zwischen Dokument und Inszenierung wird obsolet. Dazu passen die Ergebnisse jüngster psychologischer Forschung. Anhand von manipulierten Bildern wurden Probanden vermeintliche Szenen ihrer Kindheit gezeigt: Ausflüge oder Feiern. Diese hatten aber nie stattgefunden. Die Figur des Probanden wurde in Fotografien mit fiktiven Szenen und Ereignissen hinein montiert. Dennoch konnten sich die Testpersonen erinnern und behaupteten fest, sich wieder an dieses oder jenes Ereignis deutlich erinnern zu können, und konnten sogar die entsprechenden Gefühle dezidiert beschreiben. Eine Gesellschaft gibt es, eine fotografische Wahrheit gibt es nicht. Und deshalb ist „Deer Family“ auch Anthropologie. Sie zeigt, dass das menschliche Bewusstsein wandelbar und flexibel ist, dass Inhalte adaptiert, geformt und imaginiert werden können, und vieles von dem, was wir glauben oder glauben wollen, auf Projektionen basiert. Deshalb ist auch die Tierwelt ein ständiges Exerzierfeld der Vorstellung, um unser eigenes Verhalten verstehen, erklären oder ertragen zu können. Die Hirsche in Ribbes Arbeit kennen weder Familie noch Fotografie. Ihre Herdenorganisation folgt einem Programm der Selbsterhaltung und basiert auf einer feststehenden Hierarchie. Ein Rudel ist keine Familie. Es ist auch kein Sinnbild der Gesellschaft. Die Tierwelt ist frei von den Unterwerfungen und Abhängigkeiten der menschlichen Psychologie. In Zoo und Park sind sie häufig als Objekt unserer Sehnsucht instrumentalisiert. Deer Family spricht gleichermaßen über Fiktion und Wirklichkeit von Gesellschaft, Familie, Bildern und Projektionen.

Maik Schlüter

__________________________________________________________________________


Katrin Ribbe
* 1974 in Bünde, Westfalen, lebt und arbeitet in Hannover