Salon Salder


Wildes Denken
Zum Werk von Christine Schulz

Der Name des südfranzösischen Berges als Titel ihrer neuen Werkserie ist gut gewählt. Mit dem Hinweis auf den Mont Ventoux, einem der drei heiligen Berge der Provence, schafft Christine Schulz für ihre Arbeit einen Hallraum komplexer Bezüge. Der Berg, im Lateinischen Ventosus, also der Windumtoste, wurde berühmt, weil ihn der Dichter Francesco Petrarca (1303 – 1374) am 26. April 1336 zusammen mit seinem Bruder und zwei weiteren Begleitern bestieg. Das Unternehmen ging nicht allein in die Kulturgeschichte ein, weil Petrarca darüber dichtete, sondern auch, weil er in einem Brief an seinen Freund François-Denis aus Borgo Sepolcro seine Motive für die Bergbesteigung darlegte und seine Emotionen beim Erreichen des Gipfels schilderte. Der Dichter verfolgte bei seinem Ausflug auf den Berg keinerlei praktische Zwecke. Es ging ihm ausschließlich um das reine Naturerlebnis. So zu denken und zu handeln wäre im Mittelalter nicht möglich gewesen. Die Menschen glaubten, auf den Spitzen der Berge würden böse Geister und Dämonen hausen. Mit seiner der reinen Neugier geschuldeten Exkursion zeigt Petrarca eine Haltung, wie sie typisch ist für eine neue Zeit. Mit seiner Aktion wird der Dichter der „Sonette an Laura“ zum kühnen Avantgardisten. Seine Bergbesteigung beendet das Mittelalter und öffnet den Weg in den Humanismus und die Renaissance. Von da an tritt der Mensch selbst, das Individuum in den Mittelpunkt der Welt- und Wirklichkeitsbetrachtung.

Petrarca wird der überwältigende Blick von der Höhe des Berges auf die umliegende Landschaft zum Gleichnis seiner Lebensreise. Christine Schulz dagegen dient der Blick auf Petrarca und den durch ihn berühmt gewordenen Berg zur Orientierung auf ihren Reisen durch die disparaten Bild- und Erlebniswelten der Gegenwart. Beschreibt der Dichter in seinem Brief an den Freund die Angstlust beim Aufstieg sowie den Genius loci des Berges, der ihn zugleich belebt und demutsvoll macht, erinnert solche Ambivalenz an die Widersprüche, die dem komplexen Werk von Schulz eingeschrieben sind. Schon seit ihrem Studium bei John Armleder (geb. 1948) unternimmt die Künstlerin in ihrer Kunst Forschungsreisen, die nicht selten Aufstiegen auf Bergen mit allen Unwägbarkeiten ähneln. Ihre Installationen sind Multimediaarbeiten aus gefundenen und selbst produzierten Fotografien und Filmen sowie aus plastischen Werken. Sie stellen zugleich eigenständige Skulpturen und Projektionsflächen für Beamer, Diakarusselle und Overheadprojektoren dar. Die Faktur ihrer Kunst ähnelt der sprichwörtlich gewordenen, „allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden“, von der uns Heinrich von Kleist in seinem Essay Mitteilung gemacht hat. Schulz selbst beruft sich für die Signatur ihres Werks auf den französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss (1908 – 2009) und seinen Begriff der Bricolage, mit dem er 1962 sein Konzept des „Wilden Denkens“ in die Sozialwissenschaften einführte. Er versteht unter Bricolage, im Deutschen Bastelei, ein Nehmen und Verknüpfen vorhandener Zeichen, Bilder und Ereignissen zu neuen Sinnstrukturen.

Das „wilde“, mythische, bei indigenen und schriftlosen Völkern ausgeprägte Denken ist analogisch, sprunghaft und fantastisch und unterscheidet sich grundlegend vom westlichen Denken, das logisch, linear und kohärent ist. Beide Denkweisen folgen indes in ihrer Struktur universellen binären Oppositionen wie dem fundamentalen Gegensatz von Natur und Kultur. Mit diesem Gegensatz operiert Schulz auch in ihrer Werkserie VENTOUX, dessen vierte Folge sie als in situ Installation für den diesjährigen Salon geschaffen hat. Im Zentrum steht eine kubische Architektur aus Schilfrohr. Das naturhafte Material hat sie auch schon in den vorangegangenen Ausgaben 1-3 von VENTOUX verwandt. Wenn Christine Schulz das Schilfrohr in konstruktive Form bringt, synthetisiert sie darin beispielhaft den Gegensatz von Natur und Kultur. So wie sie das auch in ihren Film- und Fotowerken in immer neuen Überblendungen, Überlagerungen und Transformationen tut. Zum Beispiel im Auftritt des Marques de Pombal (Sebastiao José de Carvalhoa e Mello 1699 – 1782), Portugals bedeutendstem Aufklärer, der nach dem Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 die zerstörte Stadt wieder aufbauen ließ. In den Bildern von Fallschirmen, die nach dem Vorbild von Pusteblumen konstruiert sind. Im Thema immer neuer prekärer Behausungen. Im Sujet der Kieselsäure, die in allen Organismen vorkommt und die Bildung von Fossilien ermöglich. Oder in der Motivreihe ihrer Farne, in der sich Natur- und Kulturgeschichte gleichermaßen spiegeln.

Michael Stoeber

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Christine Schulz
geboren 1961 in Braunschweig
lebt und arbeitet in Berlin und Garbolzum