Einführung


Eröffnungsrede in Salder vom 29.05.2016

„Die Erinnerung der Arbeit“ heißt die Ausstellung, die hier heute eröffnet wird und die von Frau Stephanie Borrmann kuratiert wurde.

In der Schule haben wir gelernt, eine solche Genetivkonstruktion wie die des Ausstellungstitels zweifach zu begreifen. Entweder als genetivus subjectivus. Dann ist es die Arbeit, die sich erinnert. Eine reizvolle Vorstellung, die Arbeit in der Rolle einer Protagonistin zu erleben, die sich ihre eigene Geschichte vergegenwärtigt. Als literarisches Sprechen könnte das sogar funktionieren, sonst wohl eher nicht. Oder als genetivus objectivus. Dann sind wir es, die sich an die Arbeit und ihre Geschichte erinnern, was der Themenstellung der Ausstellung eher entspricht. Und zwar erinnern wir uns an sie im Medium der bildenden Kunst mit Hilfe des Gedächtnisses der Künstler. Einer Kunst, deren Werke grosso modo ein ganzes Jahrhundert umfassen. Die frühesten Werke der Ausstellung in Salder stammen aus dem späten Impressionismus. Wir stoßen auf den Namen Max Liebermann, der neben Max Slevogt und Lovis Corinth als bedeutender deutscher Vertreter dieser Kunstrichtung gelten darf. Dann folgen wichtige Namen aus dem Realismus, Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit wie die von Ernst Barlach, Erich Heckel, Max Beckmann, Conrad Felixmüller, Otto Dix und Georg Grosz. In den 1960er Jahren mehren sich Vertreter der Pop Art, vor allem amerikanischer Provenienz, die in Deutschland seinerzeit rasch populär wurden; darunter sind so prominente Figuren wie Roy Lichtenstein, James Rosenquist und Jim Dine.

Dass unter den hier vertretenen Künstlern keine aus dem Bereich des abstrakten Expressionismus und der konzeptuellen Kunst auftauchen, liegt am Charakter der Sammlung, aus dem die präsentierten Werke stammen. Sie kommen alle aus dem Haus, in dem sie auch gezeigt werden, nämlich aus der Städtischen Kunstsammlung Salder. Begonnen hat diese Sammlung seinerzeit Alexander Baier, der vormalige Direktor der Städtischen Kunstsammlung Salzgitter, und fortgesetzt hat diese Sammlungstätigkeit die Kuratorin dieser Schau, Stephanie Borrmann, mit Künstlern wie Svenja Maaß, Volker Blumkowski, Lars Eckert und Hannes Malte Mahler. Sammlungsziel war es nach einem Beschluss des Rates der Stadt Salzgitter, thematisch zu sammeln, so wie auch die aktuelle Ausstellung thematisch auf das Sujet Arbeit ausgerichtet ist. Man wollte in einer Stadt, deren Wohl und Wehe von Arbeit im industriellem Maßstab bestimmt wird, der Arbeit im Medium der Kunst ein Denkmal setzen, um ihr auf diese Weise Dank abzustatten. Denn ohne den ökonomischen Mehrwert, den die Arbeit erwirtschaftet, hat auch die Kunst schlechte Karten.

So ein bildnerisches Denkmal für die Arbeit verlangt, um als Würdigung angemessen verstanden zu werden, bei aller Abstraktion nach Gegenständlichkeit. Und so finden wir hier Kunstwerke versammelt, die auch da, wo sie aus der unmittelbaren Gegenwart stammen, von der Arbeit in sehr konkreter Weise erzählen. In einer Zeit als Arbeit, vor allem die Handarbeit, noch als harter, bitterer und nicht selten auch gefährlicher Broterwerb das Leben der Menschen bestimmte, war diese durch den Künstler einfacher darzustellen, oft auch dramatischer, als in einer Zeit wie der heutigen, die von der weitgehenden Automatisierung, Robotisierung und vor allem Digitalisierung des Berufslebens geprägt ist. Eine ratternde Dampframme in den sie umklammernden Händen und muskulösen Armen eines Arbeiters wirkt eben weitaus spektakulärer als die stille Tastatur eines Computers. Wobei die Algorithmen des Rechners zu Veränderungen führen können, welche die Bautätigkeiten ganzer Heerscharen von Arbeitern mühelos in den Schatten stellen; nur vollziehen sie sich eben eher unsichtbar. So sind es denn auch weitgehend dieselben Motive, die die Künstler im Westen wie im Osten, im Kapitalismus wie im Kommunismus in der Vergangenheit dargestellt haben. Das betrifft die Arbeiter und ihre Werkbänke wie die Fabriken und ihre Fließbänder, die Vorzimmer der Macht und die Chefzimmer wie die Wirkungsfelder von Managern und Betriebsräten.

Das große Problem einer solchen Darstellung besteht darin, dass sie über den spezifischen Charakter der Arbeit wenig aussagt. Schon wahr, die knotigen, schwieligen und abgearbeiteten Hände des Vaters und der Mutter von Otto Dix, die der Maler im berühmten Porträt seiner Eltern uns groß vor Auge stellt, machen unübersehbar deutlich, dass ihr Leben Mühe und Arbeit war. Ob es dabei süß war, wie die biblische Erzählung uns glauben machen möchte – „Und ist es süß gewesen, so ist es Mühe und Arbeit gewesen“, lautet das entsprechende Zitat – oder nur fatalistisch ertragen wurde, bleibt dabei im Dunkel. Wir stoßen hier auf eine ähnliche Problematik, wie sie Bertolt Brecht 1932 beim Anblick einer Fotografie der AEG-Werke festgestellt hat. Die Wahrheit über die Verhältnisse in der Fabrik, so Brecht, gebe die Aufnahme nicht heraus. Ganz richtig! Ebenso wenig wie die Farbserigrafie einer Chemiefabrik des amerikanischen Pop-Artisten Roy Lichtenstein. Die Rauchschwaden der qualmenden Fabrikschlote auf seinem Bild machen deutlich, dass dabei reichlich Co2 in die Atmosphäre ausgestoßen wird. Aber ob das nun für die Menschen Fluch oder letztlich vielleicht doch ein Segen ist, was da produziert wird, verrät auch dieses Bild nicht.

Was indes am Ende alle Werke in dieser Ausstellung deutlich machen ist, dass die Arbeit zur condition humaine des Menschen zu gehören scheint. Oder in der Diktion von Moralphilosophen wie Immanuel Kant, dass sie für ihn eine „sittliche Pflicht“ ist. Allein die erzählenden Titel der Bilder dieser Ausstellung verweisen auf eine Vielzahl von Tätigkeiten und Arbeiten, durch die der Mensch dieser sittlichen Pflicht nachkommt. Arbeit wird in ihnen präsentiert als Hand- und Kopfarbeit, vollzieht sich als selbstständige und nicht selbstständige Arbeit, als künstlerische Arbeit und als Lohnarbeit, als Arbeit in öffentlicher und privater Sphäre. Die Künstler porträtieren gleichermaßen Büroangestellte wie Bauarbeiter, Blumenverkäuferinnen wie Kellnerinnen, Seiltänzer und Radiosprecher, Schlosser und Schafhirten. Ein bunter Bilderbogen quer durch die Zeiten zeigt, wie Arbeit sich verändert hat oder zum Teil auch schon verschwunden ist. Ebenso wie bestimmte Werkzeuge, Arbeitsplätze und Arbeitsbereiche. Die Hausarbeit heute ist fundamental verschieden von der vor hundert Jahren, ebenso wie die Erziehung der Kinder oder die Ausstattung und die Arbeitsabläufe in Läden und Fabriken. Oder von dem geschäftigen Treiben im Hamburger Hafen, wie es uns Oskar Kokoschka zu seiner Zeit in einer Lithografie vorgestellt hat. Der Kolonialwarenladen von Hans Körnig, in dessen Bezeichnung – „Kolonialwaren“ – noch der Imperialismus des 19ten Jahrhunderts nachhallt, ist längst verschwunden aus unserer sozialen Mitte so wie die meisten Tante-Emma-Läden und hat den omnipräsenten Supermärkten Platz gemacht. Auch sind bestimmte Berufe nicht mehr allein nur Männern oder Frauen vorbehalten, sondern der Zugang zu ihnen ist längst gleichberechtigt. Auf diese Weise wird der Ausstellungsbilderbogen zur Arbeit in Salder zu einem Kapitel Archäologie, Politologie und Soziologie. Zur Grabungsarbeit. In den sozialen Sedimenten, die die Bilder uns zeigen, spiegeln sich nicht nur die Veränderungen der Arbeitswelt in den letzten 100 Jahren, sondern auch die unserer gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit.

Und so setzt die „Erinnerung der Arbeit“ in dieser Ausstellung beim Betrachter immer wieder grundsätzliche Überlegungen zur Arbeit in Gang. Er befragt sie in großen Maßstab. Gehört die Arbeit als sittliche Pflicht tatsächlich zur Existenz des Menschen? War sie nicht, so jedenfalls die biblische Erzählung, ursprünglich als Bestrafung angelegt? Vollzog sich das Leben im Paradies zuvor nicht ohne Arbeit? Und ist das Freisein von Arbeit nicht der Wunschtraum aller? Oder ist es eher ein Alptraum, ohne Arbeit zu sein? Die Griechen der Antike – böse Zungen behaupten, auch die der Gegenwart – hielten jedenfalls die Aufnahme von Arbeit unter ihrer Würde. Dafür hatten sie Sklaven. Andererseits stützten Karl Marx und Friedrich Engels ihre Gesellschaftsanalyse durch eine entwickelte Arbeitsphilosophie. Hegel „vom Kopf auf die Füße zu stellen“, hieß für sie, den Platz des göttlich Absoluten durch das ökonomisch Absolute der Arbeit als alles begründende Wirklichkeit zu besetzen. Engels schrieb dazu: „Die Arbeit ist die Quelle allen Reichtums, sagen die politischen Ökonomen. Sie ist es - neben der Natur, die ihr den Stoff liefert, den sie in Reichtum verwandelt. Aber sie ist noch unendlich mehr als dies. Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, dass wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie – die Arbeit – hat den Menschen selbst geschaffen.“

Die Arbeit, von der Engels hier schreibt, hat allerdings mit der von ihm und Marx zuvor beschriebenen Zwangsarbeit von Vasallen, Hörigen oder Sklaven quer durch die Zeiten nicht das Mindeste zu tun. Auch nicht mit der Fron der ausgebeuteten Fabrikarbeiter ihrer Zeit, die sie von ihren Ketten befreien wollten. Befreien zu einer Existenz, in der die Arbeit nicht mehr Fron, sondern Lebensbedürfnis ist. Hin zu einem Zustand, in dem die Freiheit und Notwendigkeit der Arbeit in eins fallen. Wo der Mensch arbeiten muss, weil er arbeiten will. Weil er einem inneren Antrieb folgt. Das erinnert dann doch wieder sehr stark an die alten Griechen, die ja auch nicht nur müßiggingen, sondern ihre Muße nutzten, um einige der großartigsten Dramen der Weltliteratur zu schreiben. Oder um die Philosophie, Medizin und Mathematik weiter zu entwickeln. Oder um beeindruckende Plastiken und grandiose Architekturen zu schaffen, die uns noch heute in Erstaunen setzen und erfreuen. Eine solche ebenso freie wie notwendige Arbeit bestimmt das Tun jedes wahrhaften Überzeugungstäters, darunter in erster Linie Wissenschaftler und Künstler; wodurch sich der Arbeitsbegriff, den die Ausstellung uns anbietet, ausweitet hin zu einer Selbstbeschreibung von Kunst und Künstlertum.

In diesem Licht gilt es auch die Forderung des Schwiegersohns von Karl Marx, Paul Lafargue, zu begreifen, der für das „Recht auf Faulheit“ eintrat und damit heftig provozierte. Was er mit diesem Recht im Auge hatte, war indes in erster Linie die Verweigerung einer Arbeit, die sein Schwiegervater als „entfremdete“ beschrieben hatte. Im Grunde ist das Ziel seiner 1880 erschienenen Schrift nicht die Forderung eines Grundrechts auf Faulheit, sondern die Abschaffung kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Die griffige Parole seines Buches ist nichts anderes als ein Kampfruf. Wäre es ihm um absolutes Nichtstun gegangen, hätte er sich wohl kaum der Mühe unterzogen, das oben genannte Buch überhaupt zu schreiben. Nein, es ging ihm nicht um die Abwesenheit von Arbeit, sondern um eine andere Form von Arbeit. Um ein Tun, das Friedrich Schiller 1795 in seinen „Briefe(n) über die ästhetische Erziehung des Menschen“ als ein Spiel beschrieben hat, in dem der Mensch die Kräfte seines Denkens und Fühlens gleichermaßen einsetzt. Nichts, so der Dichter, sei für ihn beeindruckender als der konzentrierte Ernst eines in tiefer Versunkenheit ganz seinem Spiel hingegebene Kind. Woraus er folgert, dass „der Mensch nur spielt, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er nur da ganz Mensch ist, wo er spielt."

Dieses Spiel ist so wenig Kinderei wie man im Sprachgebrauch die Adjektive „kindlich“ und „kindisch“ verwechseln darf. Sondern Schiller skizziert hier das Ideal eines selbstbestimmten Arbeitens, von dem auch Karl Marx träumte. Im entfalteten Kommunismus hört, wie er es sieht, mit der Aufhebung des Privateigentums auch die Selbstentfremdung des Menschen auf. Nun kann sich jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen entfalten. Kann, wie Marx in der „Deutschen Ideologie“ schreibt, „heute dies, morgen jenes tun, morgens jagen, nachmittags fischen, abends Viehzucht treiben, nach dem Essen kritisieren, wie er gerade Lust hat, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ Eine schöne Utopie, wie menschliche Arbeit auch aussehen könnte. Aber sie ist bis heute noch in keinem Staat der Welt Wirklichkeit geworden. Und ob sie das jemals wird, ist stark zu bezweifeln.

Dabei ist die „entfremdete“ Arbeit seit Marx nicht weniger geworden. Nur anders. Inzwischen erleben wir unter dem Stichwort „Industrie 4.0 die mittlerweile vierte industrielle Revolution. Sie wird bestimmt durch eine fortschreitende Automatisierung aller Arbeitsprozesse, durch die industrielle Nutzung des Internets, durch Computer basierte Technologien, durch digitale Selbstausbeutung sowie durch globalisierte Arbeits- und Handlungssysteme. Das hat Konsequenzen. Je technischer und vernetzter die Arbeit in den Gesellschaften des Westens wird, desto weniger Menschen werden zur Güterherstellung gebraucht. Die man braucht, sind in der Regel qualifizierte Spezialisten. Darüber hinaus werden immer mehr Menschen „freigesetzt“, wie der euphemistische Begriff für Arbeitslosigkeit heute lautet. In höher entwickelten Industriestaaten hat die Produktivität am Ende des 20. Jahrhunderts einen Stand erreicht, der es erlaubt, mehr als ein Drittel der Staatsbevölkerung von der Erwerbsarbeit auszugrenzen. Für viele stellt sich also heute weniger das Problem einer „entfremdeten Arbeit“, sondern das Problem, überhaupt keine Arbeit zu haben. Hannah Arendts These, von ihr bereits 1958 in ihrem Buch „Vita activa oder vom tätigen Leben“ formuliert, ist längst Wirklichkeit geworden: „Was uns bevor steht ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“

„Die Erinnerung der Arbeit“ – unser Ausstellungstitel – ist für viele also inzwischen auch die Erinnerung an eine Arbeit, die sie einmal hatten, aber nicht mehr haben. Wie kann die Kunst darauf reagieren? Jedenfalls nicht, indem sie den Zustand der Arbeitslosigkeit lediglich dokumentiert oder deren Folgen dramatisiert. Das wäre eine reine Tautologie. Sondern indem sie ein Möglichkeitsfeld eröffnet, wie man die Krise als Chance nutzen kann. Das muss nicht utopisch bleiben, sondern kann durchaus handlungsrelevant werden. Nämlich dann, wenn wir durch die Kunst lernen, unsere Freiheitsmöglichkeiten zu nutzen, die das Freisein von Arbeit ja durchaus beinhalten kann. Wenn wir lernen, in Schillers Sinn tätig zu werden. So, wie wir als Kinder spielten. Darin könnte man auch den tieferen Sinn des berühmten Beuys-Satzes erkennen, jeder von uns sei ein Künstler. Damit meinte er keineswegs, wir sollten nun alle malen, zeichnen, batiken oder einen entsprechenden Volkshochschulkursus besuchen. Sondern lernen, dass der uns zur künstlerischen Gestaltung gegebene Stoff unser eigenes Leben ist. Was wir aus dem machen, wird darüber entscheiden, ob man uns dereinst nach unserem Tode, Künstler oder Dilettanten nennen wird.

Michael Stoeber